"Stuttgarter Lehrhaus" zum 200. Geburtstag von Abraham Geiger

Jüdische Reform und Wissenschaft des Judentums

Zu einem Studiennachmittag am 19. April über Abraham Geiger lud das kürzlich neu gegründete "Stuttgarter Lehrhaus" ins Paul-Gerhardt-Zentrum. Referent war Hartmut Bomhoff, der die Öffentlichkeitsarbeit des Potsdamer Abraham-Geiger-Kollegs verantwortet, in dem kürzlich die ersten liberalen Rabbiner ordiniert wurden. Er hat 2006 ein Buch über den  Wegbereiter des progressiven Judentums geschrieben mit dem Titel „Abraham Geiger – Durch Wissen zum Glauben“.


Er schilderte Geiger als junges Sprachengenie, der sich früh aus den engen Bindungen seiner orthodoxen Familie befreite und seine orientalistischen Studien mit einer noch heute revolutionären Doktorarbeit abschloss, in der er die jüdischen Quellen des Koran analysierte. Dabei wendet er sich gegen islamfeindliche Orientalisten, die Mohammed nur als Scharlatan und Betrüger beschreiben. Das Resultat seines Versuches, den Koran philologisch zu betrachten, ist die Anerkennung des Islams als Schwesterreligion. 

Normalerweise hätte er eine glänzende Professorenlaufbahn einschlagen können, wenn dies nicht im 19. Jahrhundert für Juden verschlossen gewesen wäre. So betätigt er sich sein Leben lang in mehreren Gemeinden als Rabbiner, forscht aber nebenher immer für eine "Wissenschaft des Judentums", die er gern an den Universitäten verankert hätte. Bis heute gibt es keine jüdisch-theologischen Fakultäten in Deutschland! Gleichwohl produziert Geiger neben unzähligen Reformschriften für die Synagoge weiterhin wissenschaftliche Untersuchungen, in denen er die historisch-kritische Methode auf die Bibel und Talmud anwendet.  
1857 provoziert er mit seiner Arbeit über den historischen Jesus die christliche Theologie. Er beschreibt Jesus aus der inneren Entwicklung des Judentums heraus und holt ihn gewissermaßen in den jüdischen Horizont zurück. Er ist damit der erste jüdische Gelehrte, der christliche Texte aus einer jüdischen Perspektive analysiert. Das bringt ihm aber in seiner Zeit nur Ablehnung ein. Erst heute wird auch in der christlichen Theologie der Mann aus Nazareth als Jude aus Galiläa gewürdigt.

Umstritten ist Geigers Arbeit aber auch bis heute im Judentum. Nicht nur orthodoxe Rabbiner lehnen seine radikalen Thesen als Relativierung der Thora ab. Andererseits beruft sich auf ihn das Progressive Judentum, das zwar nicht in Deutschland oder Israel, aber sonst weltweit die meisten Anhänger hat. Sie werden am 24. Mai begeistert seinen 200. Geburtstag mit vielen Veranstaltungen feiern und sich freuen, dass im Ursprungsland des liberalen Judentums wieder Rabbiner ausgebildet werden.


Vorhinweis:
Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll (Tg. Nr. 641510)
26.-28.11.2010

Progressives Judentum in Deutschland
Eine sich entwickelnde, dynamisch-lebendige Religion

Die Wurzeln des progressiven Judentums finden sich am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Besonderen Schwung bekam die Reformbewegung durch Rabbiner Abraham Geiger, der 1870 die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums begründete. Einig war man sich, dass das Judentum sich immer gewandelt habe und für Veränderungen offen sei. Das progressive Judentum bildete bald in den Einheitsgemeinden die Mehrheit. 1936 wurde Regina Jonas als erste Rabbinerin ordiniert. Was dann durch die Nazis zerstört wurde, blühte vor allem in den USA auf. Heute ist die Weltunion für progressives Judentum in 46 Ländern die weltweit größte jüdische religiöse Organisation mit ca. 1,6 Millionen Mitgliedern. Sie engagieren sich vor allem in ethischen Fragen und beteiligen sich an interreligiösen Dialogen. Juden hierzulande haben sich seit 2002 in der „Union Progressiver Juden in Deutschland e.V.“ vereinigt. 

Referenten u.a.:
Paul Yuval Adam, Vorstand Union Progressiver Juden in Deutschland, e.V., Bielefeld (angefragt)
Dr. Annette Böckler (angefragt)
Rabbiner Prof. Dr. Walter Homolka, Abraham Geiger Kolleg, Potsdam
Irith Michelsohn, Geschäftsführerin  Union Progressiver Juden in Deutschland e.V. , Bielefeld
Prof. Dr. Stefan Schreiner, Universität Tübingen

Kooperationspartner:
Dr. Michael Volkmann, Pfarramt für das Gespräch zwischen Christen und Juden, Bad Boll
www.agwege.de

Wolfgang Wagner