Es war 1977. Ich war grademal zwanzig Jahre alt geworden, hatte in Stuttgart das Abitur gemacht und ging zu einer Kundgebung für Frieden und Abrüstung nach München. Linke Sozialdemokraten und Anhänger der DKP (Deutsche Kommunistische Partei) kamen nach München. Eine Ansprache hielt auch Martin Niemöller, damals 85 Jahre alt und Grand Seigneur der Friedensarbeit. Was Niemöller gesagt hat, weiß ich heute nicht mehr. Aber beeindruckt hat er mich allemale.
1979 studierte ich in Hamburg Theologie. Mit einer kleinen Gruppe von Studenten fuhren wir auf eine Friedendensdemonstration nach Bonn. Anlass war der vierzigste Jahrestag der Besetzung Polens am 1.September. Unter den Rednern war auch Martin Niemöller, der frühere Kirchenpräsident von Hessen und Nassau. Wir wollten mit ihm für die Studentenzeitschrift „zwergPREDIGT“ ein Interview führen. Kreuzfidel nach all dem Stress mit Demonstration und Kundgebung sagte Niemöller: „Nu schießen Se mal los, aber erschießen Se mich nich.“ Und er fuhr fort: „Ich habe in der Kirche heute keinen Einfluss mehr, weil man sagt: 'Das ist Niemöller, der ist immer ein Eigenbrödler gewesen und wird es auch immer bleiben.' Ich glaube, dass Beiträge zu unserem Menschenleben in der heutigen Zeit von Christen kommen müssen, aber nicht, von der Kirche. Deshalb komme ich zu solchen Veranstaltungen.“
1981: Ich absolvierte ein Praktikum beim SWF (Südwestfunk)-Kirchenfunk in Baden-Baden. Es soll eine Sendung entstehen über die Haltung der Kirchen in den fünfziger Jahren zu Krieg und Frieden. Autor ist der Journalist und Theologe Siegfried von Kortzfleisch. Als Hifskraft werde ich ihm beigegeben. Den „rechten“ Flügel repräsentiert der ehemalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier. Vom „linken“ Flügel der evangelischen Kirche wurden drei Vertreter erwogen, einer von ihnen sollte in der Sendung vorkommen. Der emeritierte Theologieprofessor Helmuth Gollwitzer aus Berlin hatte keine Zeit, der Berliner Altbischof Kurt Scharf war nach Brasilien gefahren, aber Martin Niemöller - inzwischen 89 Jahre alt - war bereit, die Fragen zu beantworten. Ich weiß nicht mehr, was er im einzelnen gesagt hat. Aber an die Atmosphäre, die in Niemöllers Haus in Wiesbaden herrschte, kann ich mich noch genau erinnern. Offen war sie und herzlich. Schnaps haben wir getrunken und Witze gemacht.
Dabei habe ich mich im Interviewteil sehr genau an die Anweisungen gehalten, die Niemöller mir gegeben hatte: 1. Ich stelle die Frage. 2. Martin Niemöller denkt nach. 3. Ich erhalte von ihm ein Zeichen und stelle den Kasettenrecorder an. Martin Niemöller beantwortet die Frage. Mitten in einem Satz merkt er, er muss überlegen. 4. Ich stelle den Kasettenrecorder ab. 5. Wieder ein Zeichen, und der Kasettenrecorder läuft wieder. Martin Niemöller beendet den Satz und fährt in seinen Überlegungen fort. Das klappte wunderbar. Als er mich zum Abschied an die Tür begleitete, nannte er mich „Bruder“. Das habe ich allzu gern akzeptiert.
1984 im März: Martin Niemöller ist im Alter von 92 Jahren gestorben. Zufällig schaue ich mir die Trauerfeier im Dritten Programm des Fernsehens an. Staat und Kirche feiern einen Mann, der Zeit seines Lebens so unkonventionell und widerborstig war. Jetzt im Tode muss man ihn ehren. Man tut das mit weihevollen Worten. Endlich tritt ein Mann ans Rednerpult, der anders mit den Worten umgeht. Paul Oesterreicher, der als kleines Kind als Jude nach Neuseeland geflohen war und nun als Priester der Anglikanischen Kirche von England einiges zur Aussöhnung zwischen Deutschen und Engländern getan hat. Er spricht von seinem Freund Martin Niemöller. Doch plötzlich bricht der Fernsehbericht ab. Eine Ansagerin vermeldet, dass man leider nun die Übertragung der Traurfeier abbrechen müsse. Jetzt gelte wieder das Programm, das ausgedruckt sei.
Wer war nun Martin Niemöller?
Er wird 1892 als Sohn des Pastors Heinrich Niemöller geboren. Der Vater - fromm und kaisertreu - wirkt zuerst in Lippstadt, Westfalen, später in Wuppertal. Sein Sohn Martin geht nach dem Abitur zur Marine und wird U-Bootkommandant. Nach Ende des 1.Weltkriegs arbeitet er zunächst als Knecht auf einem Bauernhof und entschließt sich dann, evangelische Theologie zu studieren.
1931 wird er Pastor der Evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Dahlem. Zu dieser Zeit ist Niemöller noch sehr deutsch-national geprägt. Schon 1924 hatte er nationalsozialistisch gewählt, 1933 die Einführung des „Führerstaates“ begrüßt. Doch diese Haltung ändert sich im Laufe des Jahres 1933. Von oben herab wird der Kirche befohlen, sie dürfe nun keine zu Christen bekehrte Juden in ihren Reihen mehr dulden. Aus Protest gegen die Einführung des so genannten „Arierparagrafen“ ins Kirchenrecht ruft Niemöller zur Gründung des Pfarrernotbundes auf, die spätere „Bekennenden Kirche“. Niemöller wird aus dem Pfarrdienst entlassen, arbeitet weiter und wird immer strenger überwacht.
Im Juli 1937 wird Niemöller verhaftet und kommt ins Untersuchungsgefängnis Moabit. Nach dem Prozess wird er direkt ins KZ Sachsenhausen transportiert. Hitler hatte den Pastor zu seinem „persönlichen Gefangenen“ erklärt und Isolationshaft angeordnet. 1941 wird er in das Konzentrationslager Dachau verlegt. 1945 ist er frei.
Schuld der Christen
Martin Niemöller setzt sich danach intensiv mit seiner Schuld und der Schuld seiner Kirche in den Jahren der Naziherrschaft auseinander. Erst im KZ sei ihm bewusst geworden, „dass ich als Christ nicht nach meinen Sympathien oder Antipathien mich zu verhalten habe, sondern dass ich in jedem Menschen den Menschenbruder zu sehen habe“. Diese Erkenntnis lässt ihn nicht mehr los.
Er gehört zu den Mitunterzeichnern des Stuttgarter Schuldbekenntnisses und des Darmstädter Wortes. 1947 wird er zum Präsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau berufen. Er kämpft gegen die Wiederaufrüstung in der Bundesrepublik genauso wie gegen den Militärseelsorgevertrag – alles ohne Erfolg. Und auch für die Kirche in Deutschland ist er zu eindeutig, zu radikal. So wird er in den 50er Jahren von allen Leitungsposten innerhalb der EKD abgewählt. Konkret: Er verliert die Mitgliedschaft im leitenden Rat der EKD und das Kirchliche Außenamt.
Weltweite Ökumene
Anders sieht es bei der weltweiten Ökumene aus. Schon seine Gefangenschaft im Dritten Reich machten Martin Niemöller weltbekannt. Immer wieder wurde auf Fürbittlisten für den „Gefangenen des Führers, Pastor Niemöller“ gebetet, und das geschah bei den Inuits in Alaska genauso wie bei den Maoris in Neuseelands.
Martin Niemöller erhält jetzt nach den 2.Weltkrieg viele Angebote zum Sprechen über Deutschland, und das in der ganzen Welt. Er nimmt diese Verpflichtungen gerne an. Es ist kein Wunder, dass er 1961 in Neu-Dehli als einer der Präsidenten des Weltkirchenrats gewählt wird. 1964 legt Niemöller sein Amt als Kirchenpräsident nieder. Doch sein Engagement für die weltweite Ökumene, für Frieden und Gerechtigkeit bleibt ungebrochen.
Auch an der Friedensbewegung der frühen 80er Jahre hat er maßgeblichen Anteil. Niemöller führt ein Leben im Widerstand und mit Widersprüchen. Er wird mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wie auch mit dem Lenin-Orden der Sowjetunion. Nicht weil er Kommunist war, sondern weil er zeigen wollte: Die Friedensfreunde gibt es vor und hinter dem eisernen Vorhang.
Ein Motto, das ihn durch sein Leben begleitete, war der Satz eines armen Webers. Der Bub Martin Niemöller hatte ihn mit seinem Vater in Wuppertal besucht. Dieses Motto war in Leine gewebt und hing an der Wand des Weberhäuschens. Es lautete: „Was würde Jesus dazu sagen?“
So hat Martin Niemöller gelebt und so ist er auch gestorben. Immer mit der Frage: „Was würde Jesus dazu sagen?“
Materialien
Martin Niemöller dargestellt von Matthias Schneider, Rowohlt Monographie, Reinbeck bei Hamburg. 1997
Martin Niemöller – Was würde Jesus dazu sagen. Eine Reise durch ein protestantisches Leben; Drehbuch und Regie: Hannes Karnick und Wolfgang Richter; DVD-Titel: Rebell wider Willen – Das Jahrhundert des Martin Niemöller.
Die martin-niemoeller-stiftung.de betreibt politische Bildung im „niemöllerschen“ Sinn. Vorsitzender ist der emeritierte Siegener Theologieprofessor Martin Stöhr, von dem kluge Aufsätze hier zu finden sind.
Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich nicht protestiert;
ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie die Juden holten,
habe ich nicht protestiert;
ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten,
gab es keinen mehr, der protestierte.
Martin Niemöller in einer Rede gehalten 1976 in Kaiserslautern.