Sichtwechsel in andere Lebenswelten

Anregungen zum Blick über den eigenen sozialen Tellerrand

Abends im Diakonieladen „Eckpunkt“ in Kirchheim/Teck. Der Laden hat schon geschlossen.  Etwa zehn Männer und Frauen sitzen auf den gebrauchten Sofas und Sesseln, die zum Verkauf angeboten werden, und hören aufmerksam und sichtlich bewegt zu, was zwei Mitarbeiterinnen der Diakonischen Bezirksstelle erzählen. Wie gerät jemand in Langzeitarbeitslosigkeit? Was heißt es ganz konkret und alltäglich, von Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) leben zu müssen? Und welche Möglichkeiten hat die Diakonie, diese Personengruppe zu unterstützen und ihnen wieder eine Perspektive zu geben?

Eine der Zuhörerinnen, von Beruf Lehrerin, sagt nachher: „Im Bekanntenkreis bin ich eigentlich nur mit Menschen zusammen, die Arbeit haben. In meiner Gesellschaftsschicht fehlt mir da einfach der Einblick. Deshalb hat mich das interessiert. In der Schule krieg ich von Armut nur ganz am Rande etwas mit, man versucht ja, Armut zu verbergen. Ich möchte aber als Lehrerin Anwalt von solchen Kindern sein. Von allein kommt niemand und sagt, das kann ich nicht bezahlen, wenn man z.B. einen Ausflug macht.

Es hat mich sehr bewegt, wie der Weg von oben nach unten aussehen kann,  wie viel familiär bedingt ist und wie viel Kraft es braucht, da raus zu kommen. Die beiden Sozialarbeiterinnen haben uns das an zwei Beispielen mit sehr viel Empathie vermittelt. Von diesen ganz konkreten Beispielen kann ich auch im Bekanntenkreis erzählen. Wir haben gemerkt, wie sehr Armut ein Tabuthema ist. Es war schon auch bedrängend, weil es ja jeden treffen kann und vor einem Schicksalsschlag niemand gefeit ist.“

In den letzten drei Jahren hat das Projekt „SichtWechsel“ des Kreisdiakonieverbands Esslingen Modelle entwickelt,  um solche Einblicke zu geben. Dahinter steht die Erfahrung, dass das Auseinanderdriften von Arm und Reich in unserem Land, von Privilegierten und Benachteiligten, in den letzten Jahren viele Menschen im kirchlichen Umfeld bewegt, aber doch oft ein ziemlich abstraktes Thema bleibt. Denn wer aus den häufig bildungsbürgerlich geprägten Kirchengemeinden kennt tatsächlich Menschen, die arm sind, die in sozial schwierigen Verhältnissen leben  oder zu den sogenannten „bildungsfernen Milieus“ gehören? Wer weiß, wie das alltägliche Leben mit (zu) wenig Geld aussieht, und wie es sich anfühlt, sich am Rand der Gesellschaft einrichten zu müssen? Wer zu den Machern und Engagierten gehört, kann vieles im Verhalten von Benachteiligten nicht verstehen. Erst beim genaueren Hinsehen wird deutlich, wie viel Kraft es kostet, den Alltag zu bewältigen, wenn man wenig Geld hat und wenn man zu oft erfährt: Ich werde nicht gebraucht. Ich bin nicht gut genug. Ich gehöre nicht richtig dazu.

Diakonische Einrichtungen
Solche realen und emotional berührenden Einblicke in „fremden Welten“ bringen uns in Bewegung im Sinne Jesu, der immer neu auf  Menschen am Rand zuging und sie wieder in die Gemeinschaft zurückholte. Eine mögliche Annäherung an fremde Lebenswelten ist es, in einer diakonischen Einrichtung von den Mitarbeitenden über ihre Arbeit und die Lebenssituation ihrer Klientinnen und Klienten zu hören. Bewährt hat sich die Form eines „diakonischen Rundgangs“ zu zwei oder drei verschiedenen Einrichtungen, wie etwa der Schuldnerberatung, einer Beratungsstelle für Wohnsitzlose oder einer Jugendhilfeeinrichtung.

In manchen Kirchengemeinden haben sich Erwachsenenbildungsbeauftragte, Diakoniebeauftragte und ein Gottesdienstteam zusammen getan, um regelmäßig, z.B. zweimal im Jahr, solch eine Exkursion in eine fremde Welt mit einem Themengottesdienst zu verbinden. Diese Gottesdienste sprechen deshalb sehr an, weil sie ganz konkrete Erfahrungen aufgreifen und mit der biblischen Botschaft verbinden.

Begegnungen
Einen noch intensiveren Einblick geben direkte Begegnungen. Für einzelne Interessierte gibt es etwa die Möglichkeit, einmal bei einem Beratungsgespräch der Schuldnerberatung oder einen Nachmittag lang in einem Kinderheim dabei zu sein. Wo eine diakonische Einrichtung am Ort ist, können viele Begegnungsräume geschaffen werden. So hat eine Kirchengemeinde im Rahmen eines Jahresprojekts die Kontakte zu einer psychiatrischen Einrichtung intensiviert. Beim Gemeindefest haben die BewohnerInnen ihre Gemälde und kunsthandwerklichen Erzeugnisse ausgestellt. Umgekehrt fand der Mitarbeiter-Dank-Abend in der Einrichtung statt – mit interessanten Begegnungen am Rande. In gemischten Gruppen aus BewohnerInnen und anderen Kirchengemeindemitglieder wurden Handzettel in den Häusern verteilt, die zum Jahresfest der Einrichtung einladen, und vieles mehr.

Wenn diese Begegnungen gut vorbereitet und begleitet werden, können sie Vorurteile korrigieren und einen emotionalen Zugang zu den betroffenen Menschen vermitteln – Verständnis für ihre Situation und Achtung für das, wie sie ihren Alltag meistern. Solche „SichtWechsel“-Erfahrungen sind dringend nötig, wenn wir uns als Kirche und als einzelne Christinnen und Christen stärker für soziale Gerechtigkeit engagieren möchten, wie es die Landessynode mit ihrer Schwerpunkttagung zum Thema Armut 2010 vorhat. Eine empirische kirchliche Studie über „Innenansichten der Armut“ stellt fest: In der Kirche gibt es sehr viel grundsätzliche Akzeptanz von unterprivilegierten Menschen – emotional aber eigentlich Ablehnung. Was es dagegen braucht, sind Menschen, die vom Bauch her Sympathie mit den Armen verspüren – den Kopf aber frei halten, um ihnen ggf. in kritischer Solidarität mehr zuzutrauen, als sie es selbst tun.

Nähere Informationen über erprobte und bewährte Modelle gibt das Heft „SichtWechsel – Diakonisch sehen lernen“. Es ist kostenlos zu bestellen beim Kreisdiakonieverband Esslingen, Alleenstr. 74, 73230 Kirchheim/Teck oder info@kreisdiakonie-esslingen.de. Weiteres Material ist auch zu finden auf  der Homepage www.kreisdiakonie-esslingen.de unter Download/SichtWechsel.

Cornelia Eberle war von 2006 bis 2009 Pfarrerin im Projekt SichtWechsel in Esslingen, jetzt arbeitet sie in der BruderhausDiakonie in Reutlingen