Liebe Gisela, liebe Familien Peter und Wolfgang und Ulrich Hermann, liebe Trauerfamilien und liebe Trauergemeinde,
„Gott ist die Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4, 16) Diesen Satz aus dem 1. Johannesbrief hat Reinhard zusammen mit Dir, Gise, für diese Trauerfeier ausgesucht, als seine fortschreitende Demenz das noch zugelassen hat. Es war der Text seiner Examenspredigt, vermutlich zum 1. Examen 1946, also vor 70 Jahren!
Als Ihr mir diesen Vers genannt habt, habe ich – ehrlich gesagt – im ersten Moment gedacht: Das passt doch gar nicht zu ihm! Gewiss, er war ein freundlicher, gelassener, heiterer Mensch, bis zuletzt. Aber er war doch auch ein Patriarch, wie die meisten Männer seiner Generation. Wohlwollend, gewiss und um alle besorgt und bemüht, die ihm anvertraut waren. Aber doch auch immer ein bisschen abgehoben von den Niederungen des Alltags. Die überließ er gern Lies, seiner ersten Frau. Er war ein kluger Kopf, theologisch und auch sonst hoch gebildet, sozial-liberal im politischen Denken. Eine Autorität, und keiner wäre darauf gekommen, das zu hinterfragen, gerade weil er so freundlich war. Ein gütiger Patriarch, aber gerade seinen Nächsten immer ein bisschen fern, oft hinter verschlossener Tür in seinem Arbeitszimmer nachdenkend und mit seiner Arbeit und seinen Predigten beschäftigt. Eingehüllt in Pfeifenrauch, der durch die Tür gut zu riechen war.
Für diesen Mann ein Wort über die Liebe?
Beim Nachdenken ist mir dann der Theologe eingefallen, von dem es eigentlich nur solche Fotos gibt, am Studiertisch mit Pfeife: Karl Barth, der Kirchenvater des 20. Jahrhunderts. Auch ein Kopfmensch, politisch, kämpferisch, aber ganz fest gebunden an die Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Und Barths dicke KD ist mir eingefallen, die an prominenter Stelle in Reinhards Arbeitszimmer stand. Wenn man einen Band ausgeliehen hat, konnte man den Pfeifenrauch daraus riechen. Und da habe ich begriffen: „Gott ist die Liebe“, das passt. Denn Reinhard war Barthianer, also Barth-Schüler, und Karl Barth hat in seiner dicken Kirchlichen Dogmatik Gott so beschrieben: Gott ist Freiheit und Gott ist Liebe. Mehr gibt es nicht zu sagen – obwohl Barth dann 12 Bände mit 9000 Seiten dafür gebraucht hat.
Deshalb also heute an Reinhards Sarg “Gott ist die Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Und die Liebe, die hat ja bekanntlich viele Gesichter. Ganz verschiedene Gesichter.
Bei Reinhard konnte man sehen, wie verschieden die Liebe sein kann, für die und aus der er gelebt hat, weil er ja aus und für Gott gelebt hat. In den ersten zwei Dritteln seines Lebens, hat er, scheint mir, die Liebe vor allem als Aufgabe begriffen. Er hat für die Liebe gelebt. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Bestimmt hat er das schon in der Familie so vermittelt bekommen und während seiner kirchlichen Karriere dann immer wieder. Die war ganz traditionell. 1923 in Gruorn als Pfarrerssohn in eine Familie hinein geboren, in der man seit Generationen Pfarrer war. Dann die traditionelle schwäbische Laufbahn für Pfarrerssöhne: Die Seminare in Maulbronn und Blaubeuren, Studium hier in Tübingen im Stift. Zum Militär musste er nicht im 2. Weltkrieg, weil er Tuberkulose hatte, aber Kriegsersatzdienst als Lehrer musste er leisten. Nach dem Krieg dann Vikarszeit, ein Jahr Stipendium in den USA, 1954 die Hochzeit mit Lies und die erste Pfarrstelle in Balingen, wo Reinhards Vater schon Dekan gewesen war. Die Geburt der drei SöhneL; ab 1955 bis 1989 ein Mandat in der Landessynode unserer Kirche für die sozialliberale Offene Kirche. 24 Jahre lang. Und ab 1970 dann war er Dekan in Tübingen, bis 1986 – 16 Jahre lang. In dieser Zeit hat er sich für andere, für seine Kirche, aber auch für die Ökumene eingesetzt und (was damals etwas Besonderes war und ihm viele übel genommen haben): Er hat die Friedenswochen hier in Tübingen mitbegründet. Ich sehe ihn noch bei den Demos mit seinem Gehstock (weil ihn damals der Ischias plagte) in der ersten Reihe.
Seine kirchlichen Ämter hat er immer als Aufgabe der Liebe gesehen und gewissenhaft wahrgenommen. Er fehlte bei keiner Sitzung und hielt mit viel Geschick das kirchlich und theologisch disparate Dekanat zusammen. Er konnte mit Geduld abwarten, bis die Dinge entscheidungsreif waren und bis es so weit war, hörte er den verschiedenen Stimmen zu und fragte höchstens mal nach. Immer aber war er bemüht, die Dinge theologisch zu beleuchten und zu begründen. Im Gespräch mit den Brüdern und Schwestern aus dem pietistischen Umfeld kam ihm dabei zu Gute, dass er für alle zweifellos ein frommer Mann war, der immer wieder das biblische Zeugnis befragte und dort Antworten suchte. Da konnte man am Ende meistens schlecht anderer Meinung sein als er. Ein Kopfmensch und guter Patriarch, der die Seinen umsichtig in die Richtung lenkte, die ihm richtig schien.
Diese Aufgabe war ihm aber offensichtlich auch eine Last und hat ihn gedrückt. Im Privatleben hat er sich deshalb oft zurückgezogen. So viel er beruflich zu diskutieren hatte, so gern schwieg er zu Hause – auf seine freundliche, gelassene Art. Aber er schwieg. Brauchte seine Ruhe. Entspannte sich mit der Pfeife, mit der Sportschau und mit seinen Krimis, die er gern und viel las. Nur am Sonntagnachmittag und vor allem im Urlaub (Hermanns haben schon in den 60er Jahren Urlaub gemacht und Reinhard fand: „Wenn ich nicht wenigstens 3 Wochen Urlaub machen kann, kann ich mich nicht erholen!“) – nur am Sonntagnachmittag und im Urlaub war er anders. Da waren die Aufgaben dann weit weg, da konnte er sich mit den Kindern unterhalten und lustig sein. Da machte man Wanderungen, ging zum Schwimmen – aber die Planung und die Richtung gab doch er vor.
So war das, als er noch im Dienst war. (So hat er immer gesagt. Und schon dieses „im Dienst“ zeigt, wie er seine Aufgabe „Liebe deinen Nächsten“ verstanden hat.)
Als er dann in den Ruhestand ging, da kam eine neue Aufgabe. Lies, seine erste Frau wurde krank, immer wieder. Da hat er sie betreut, sie nie allein gelassen. Ins Krankenhaus und in die Kur hat er sie begleitet und schließlich ist sie in seinen Armen gestorben. Die Liebe war ihm bis zuletzt Aufgabe und er hat sich kaum einmal dabei helfen lassen. Er hat sich verantwortlich gefühlt für die, die ihm anvertraut waren.
Dann kam das letzte Drittel seines Lebens. Der Neuanfang 1995 hier in Tübingen mit Gise, die er ein paar Jahre später geheiratet hat. An seinem 80. Geburtstag! Da kam – vielleicht auch, weil er älter wurde und weil durch seine Schwerhörigkeit manches nicht mehr so einfach ging, die andere Seite der Liebe zur Geltung. Jetzt hat er nicht mehr für, jetzt hat er aus der Liebe gelebt. Auch das hätte man bei Karl Barth schon von Anfang an lernen können. Aber welcher junge Mann hätte hören können und wollen, dass die Liebe auch eine passive Seite hat? Wenn man jung ist, meint man doch, man könne alles aus eigener Kraft. Barth aber hat gewusst und geschrieben: „Unsere Liebe ist nichts anderes als das Sichgefallenlassen der Liebe Gottes“ und erst die schöpferische Liebe Gottes „lässt die von ihm Geliebten selber zu Liebenden werden“. Man muss sich Liebe gefallen lassen. Dann gibt sie Kraft. Erst das macht einen fähig, zu lieben. Liebe Gise, ich glaube, dass hat er von dir und mit dir gemeinsam gelernt. Ihr wart zwei schön ältere Liebende, ihr habt – jeder in seinem Bereich - beide schon gewusst, wo die Tücken der Liebe sind, wenn sie einem vor allem zur Aufgabe wird. Wie man unter der Last dieser Aufgabe kaum noch atmen kann. Jetzt war für Reinhard der kirchliche Dienst, diese schwere Aufgabe nicht mehr da. Und damit war anscheinend auch der Druck dieser Rolle, die er sich selbst so auferlegt hatte, von ihm abgefallen.
(Ganz am Ende übrigens, im letzten Jahr seiner Demenz-Krankheit hat sich gezeigt, wie tief dieser Dienst der Verkündigung in ihm gesteckt hat: Fast das ganze letzte Jahr war er immer am Predigen vor einer imaginären Gemeinde. Und jedes Mal hat er mit einem Segen, einem Danke und einem Amen die Gemeinde verabschiedet. Oft mehrmals am Tag und über Stunden in der Nacht. Und diese Predigten, sinnhaft oder auch wirr, waren wieder geprägt von dem Barthschen Verkündigungspathos, die ihm selbst später eigentlich fremd geworden war.)
Aber zunächst nach diesem Neuanfang mit Gise konnte er über Jahre einfach fröhlich sein, gelassen und heiter. Zärtlich. Jetzt hatte er Zeit und Freiheit und Gelassenheit, sich die Liebe gefallen zu lassen. Die Liebe Gottes, gewiss. Aber die fällt ja nicht vom Himmel. Man braucht ja Menschen, die sie einen spüren lassen. Nicht, dass es solche Menschen vorher nicht gegeben hätte. Aber da konnte Reinhard sich das offenbar eben nicht recht gefallen lassen. Da hat er sich zurückgezogen, wenn ihm jemand zu nahe kam. Aber jetzt, im Alter: Jetzt konnte er die Liebe zulassen. Jetzt hat er begriffen, dass Liebe nicht nur in theologischen Denkgebäuden existiert, auch wenn sie noch so gelehrt formuliert sind, auch nicht nur in Pflicht und Dienst, sondern auch sehr handfest und alltäglich. Ein Mensch, den man an der Hand halten kann. Mit dem man reden kann, stundenlang. Kinder, die einem auf dem Schoß herumklettern. Jetzt konnte er das genießen und dann auch zurückgeben. Jetzt hat er die erfahrene Liebe Gottes in einer größeren Weite weitergeben können. Jetzt hat er aus der Liebe gelebt. Du Gise hast erzählt, wie Du das als heilsam empfunden hast und wie dankbar Du für diese Jahre bis zuletzt, bis in seine schwere Demenz hinein bist. Und er, der immer alles allein und aus eigener Kraft können und tun und regeln wollte, er konnte sich helfen lassen. Aus dem Patriarchen war ein Partner geworden. Ein Freund.
Ich finde, es ist ein wunderbares Geschenk und es macht mir Mut, dass Gott seine Liebe gerade auch bei alten und sehr alten Menschen noch einmal neu zur Wirkung bringen kann. Mir macht das Mut für mein eigenes Alter. Und eine Frage stellt sich mir, die ich heute auch ihnen mitgeben möchte. Warum fällt es uns eigentlich manchmal so schwer, zu lieben? Liegt das vielleicht daran, dass wir zu beschäftigt sind mit uns und unseren Aufgaben, zu beschäftigt um uns lieben zu lassen?
Wir müssen nun heute Abschied von Reinhard Hermann nehmen. Aber ich glaube fest: Er ist uns nicht verloren gegangen. Wir sind und bleiben mit ihm verbunden in dem alles umfassenden Raum der Liebe Gottes. „Gott ist die Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Das gilt über den Tod hinaus. Vielleicht dann erst recht und noch einmal neu.
Die Engländer sagen, wenn man verliebt ist „to be in love“. Da sehe ich immer so einen Raum vor mir, der die Liebe ist. Und in dem sind die Menschen miteinander verbunden, die lieben – die Toten und die Lebenden. Verbunden durch und in Gott. Denn Gott ist die Liebe. Amen.