"Wir müssen vor der eigenen Haustür kehren": Zum Umgang mit sexualisierter Gewalt

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Interview mit Ursula Kress, Miriam Günderoth und Dr. Ulrike Voigt

MK Am 18. April 2023 erschien in der Tagesschau als erste Meldung ein zweiminütiger Bericht über sexualisierte Gewalt im Erzbistum Freiburg. Hat die Nachricht über die Veröffentlichung der Missbrauchsstudie bei Ihnen eine besondere Reaktion hervorgerufen?

Selbstverständlich verfolgen wir solche Meldungen und Veröffentlichungen sehr genau und wir sind auch auskunftsfähig. Als Fachstelle haben wir aber dieses Mal keine expliziten Anfragen dazu erhalten. Mit der Kirchenleitung und Pressestelle hatten wir ohnehin schon seit längerer Zeit entsprechende Texte und Übersichten auch zum Thema Prävention und Gewaltschutzgesetz leicht auffindbar auf unserer Homepage veröffentlicht: Sexualisierte Gewalt (elk-wue.de)

Ein transparenter und professioneller Umgang mit der Thematik ist wichtig für Aufarbeitung und Prävention. Jeder Diözese und auch Landeskirche steht es gut an, hier weiterzukommen. Wir müssen gesprächsfähig sein. Die Evangelische Kirche muss auch offen damit umgehen, dass auch sie Täterorganisation ist.

MK: Durch die Studie sind seit den 1950er Jahren bisher 540 Opfer sowie 250 Täter und 33 Ordensleute in der Diözese Freiburg bekannt geworden. Der Bericht erwähnt „grausamste Taten an Kindern und Jugendlichen“. Welches Spektrum an Grausamkeiten sexuellen Missbrauchs begegnet Ihnen im Rahmen kirchlicher Arbeit?

Beim Aktenscreening für die Aufarbeitungsstudie der EKD (Forum) und beim Lesen der Berichte blicken wir in Abgründe menschlichen Handelns. Dies hat in den allermeisten Fällen lebenslange zerstörerische Folgen bei den Betroffenen, wie schwere gesundheitliche und psychische Beeinträchtigungen.

MK: Uns erschütterte das Tagesschau-Interview mit Raphael Hildebrandt, der als Kind über 400 sexuelle Übergriffe über sich ergehen lassen musste. Helfen den Opfern Geldzahlungen oder irgendetwas anderes, mit ihren Erfahrungen zu leben?

Es geht um mehr als Geld: wichtig ist die Wahrnehmung, die Beteiligung und das Gesehenwerden von Betroffenen, das Gespräch mit ihnen auf Augenhöhe. Die Betroffenen, denen oft nicht geglaubt wurde, wollen gehört und ernstgenommen werden. Wir sind oft Ansprechstelle für Ärger, Sorgen, Misslungenes, Frustration. Aber auch Erfolge und Freude werden mit uns geteilt – Sonnenstrahlen wie Gewitter sozusagen. Auch ist es den Betroffenen, allen voran den Heimkindern, wichtig, dass die Fehler der Vergangenheit sich nicht wiederholen und entsprechend Prävention betrieben wird. Geld bzw. Anerkennungsleistungen oder Unterstützungsleistungen (z.B. für Therapie) helfen, vor allem in Notlagen. Die Kirche nimmt mit den Zahlungen ihre Verantwortung für das Geschehene wahr und erkennt das Leid der Betroffenen an.

Was den Betroffenen neben den Zahlungen hilft, ist sehr unterschiedlich - das kann eine Therapie sein, ein Urlaub, aber auch Hilfe bei der persönlichen Lebensgestaltung oder schlicht die Anerkennung ihres erfahrenen Leids. Manche möchten sich weiter bei der Aufarbeitung in Foren engagieren, andere möchten am liebsten nichts mehr davon hören.

MK: Seit dem „Wendejahr“ 2010 jagt eine Veröffentlichung die nächste. Die Berichterstatter der Missbrauchsstudie rechnen damit, dass die bekannt gewordenen Opferzahlen lediglich die Spitze des Freiburger „Eisberges“ waren. Rechnen Sie noch mit weiteren Veröffentlichungen auch im Blick auf die andere 26 Diözesen bzw. evangelischen Prälaturen und Kirchenkreise?

Ja, wir rechnen mit weiteren Veröffentlichungen und Fällen. Die Landeskirche nimmt derzeit an der EKD-Forumstudie teil, die weiter forscht und Tiefenbohrungen vornimmt, auch in einzelnen Kirchenbezirken. Zu lange wurde nicht systematisch hingeschaut, mit einer hohen Dunkelziffer ist daher zu rechnen. In unserer Landeskirche geschieht die Aufarbeitung im Detail aktuell im Blick auf den Hymnuschor und die Ev. Seminare in Maulbronn bzw. Blaubeuren. Und es ist auch bekannt, dass jede Veröffentlichung (wie z.B. von Freiburg) andere Betroffene motiviert, die ihre Geschichte noch nicht öffentlich gemacht haben, sich ebenfalls bei den Anlaufstellen zu melden.

MK: Im Schnitt schauen 10 Millionen Menschen die abendliche Tagesschau. Stellen Sie unmittelbare Folgen für die Kirchen nach so einer Publikation fest?

Ja, es gibt auch in der Evangelischen Kirche Austritte deswegen. Der Vertrauensverlust ist besonders für die Kirche(n), die ja lange als „moralische Autoritäten“ galten, zu spüren. Auch wird die Identifikation mit der eigenen Kirche durch solche Ereignisse erschüttert. Umso wichtiger ist es, auch von den bereits eingeführten flächendeckenden Präventionsmaßnahmen zu sprechen.

MK: Veröffentlichungen wie die Freiburger Missbrauchsstudie belasten das Verhältnis der Kirchen in der Ökumene. Die EKD-Ratsvorsitzende Kurschus sah im September 2022 jedenfalls eine Stagnation in der Ökumene mit der katholischen Kirche. Geben Sie bitte Ihre Einschätzung.

In Baden-Württemberg sind die badische und württembergische Landeskirche sowie die Diözese Rottenburg-Stuttgart und die Erzdiözese Freiburg im ständigen Gespräch zu Prävention und Intervention, Aufklärung und Hilfen. Wir arbeiten miteinander an der Thematik, geben uns auch kritische Rückmeldung und kollegiale Beratung. Es gibt auch gemeinsame Termine auf Landesebene mit Politik und Zivilgesellschaft, auch zu Schutzkonzepten. Wir arbeiten in guter ökumenischer Tradition auf dieser regionalen Ebene.

Auch auf Ebene der Kirchengemeinden, in Kitas und vielen ökumenischen Gemeinschaftsprojekten muss die ökumenische Zusammenarbeit, wo sie bisher gut lief, weitergehen, gerade auch in Bezug auf den gemeinsamen Austausch über das unfassbare Ausmaß des Missbrauchs und die langjährige Vertuschung in der katholischen Kirche. Hier gilt es, gemeinsam hinzuschauen, den Schmerz zu teilen, im Gespräch zu bleiben und gemeinsam konsequent zu handeln.

MK: Es gibt Politologen und Soziologen, die raten den Evangelischen Kirchen auf Distanz zur katholischen zu gehen. Ist Abstand eine Option?

Nein, Abstand ist keine Option. Wer auf evangelischer Seite fordert, sich zu distanzieren, verkennt oder verdrängt möglicherweise, dass auch die Evangelische Kirche bezüglich sexueller Gewalt vor der eigenen Haustür kehren muss. Im Herbst werden dazu die genauen Zahlen aus der evangelischen Kirche veröffentlicht. Als Kirche Jesu Christi stehen wir gemeinsam in der Verantwortung. Dass die Strukturen der Katholischen und der Evangelischen Kirche sehr unterschiedlich sind, wird von Außenstehenden kaum wahrgenommen und wenig unterschieden.

MK: Der Freiburger Studie ging es darum, das Machtsystem Kirche und die Strukturen, die Missbrauch begünstigen, offenzulegen. Was muss sich ändern?

Wir hatten gerade erst eine Fachtagung zu Toxischen Traditionen in der Ev. Kirche, die viele Probleme und Fragen offen angesprochen hat, die in allen Gliedkirchen angegangen werden müssen.

Die Auseinandersetzung mit toxischen (d.h. tatbegünstigenden) Strukturen, auch in der evangelischen Theologie, Leitungsfragen wie Forderung nach klaren Leitungsstrukturen und transparenten Entscheidungen bzw. Personalpolitik, die Missbrauch erschweren, steht genauso im Raum wie das Desiderat einer neuen evangelischen Sexualethik. Außerdem müssen die asymmetrischen Machtstrukturen sowie die „Pastoralmacht“ auf den Prüfstand und der Komplex von Sünde und Vergebung theologisch bearbeitet werden. Begünstigt beispielsweise die Rechtfertigungslehre die Täter? Oder was bedeutet es, wenn wir davon sprechen, dass alle (auch die Betroffenen!) Sünder sind? Dies sind dringende Arbeitsaufträge an die Kirche, erste Ansätze und Arbeitskreise sind bereits am Start (z.B. zu Amtsverständnis, Liturgie/Gottesdiensttexte, Seelsorge, geistl. Missbrauch, Pädagogik).

MK: Aufarbeitung ist das eine, Konsequenzen aus den Tausenden von Missbrauchsfällen das andere. Greifen die von der württembergischen Landessynode beschlossenen Maßnahmen, solche Verbrechen in Zukunft zu verhindern?

Prävention und Schutzkonzepte – die inzwischen in der Landeskirche verpflichtend sind und überall erarbeitet und eingeübt werden – sind ein wichtiger Schritt zur Verhinderung von sexueller Gewalt und Grenzverletzungen. Allerdings sind diese keine „Hygienekonzepte“, die man nach der Schulung abhakt und im Ordner ablegt. Es geht eher um einen Prozess, der immer wieder überprüft werden muss. Wir hoffen sehr, dass die Landeskirche hier auf einem guten Weg ist. Wichtig ist, dass alle Mitglieder der Landeskirche das Thema offen wahrnehmen, hinsehen und sich damit auseinandersetzen. Hinschauen – helfen – handeln: Nur dann, wenn wir das Thema nicht verdrängen, wenn wir Fachwissen auch über Täter*innenstrategien haben, können wir weitere Verbrechen verhindern, zumindest den Täter*innen den Boden entziehen, auf dem sie ihre Taten begehen können. Es gibt ja die Täter*innen, wir können realistischerweise nicht ausschließen, dass sie auch in der Kirche leben wie auch in allen anderen gesellschaftlichen und familiären Bereichen.

MK: Skizzieren Sie bitte einmal eine Vision von Kirche, in der Kinder unbeschwert und fröhlich heranwachsen und kirchliche Beschäftigte gerne arbeiten?

Wir möchten eine achtsame Kirche sein, die sich kritisch auch mit ihren familiären Strukturen auseinandersetzt und deren Risiken bedenkt: Es gibt oft wenig Trennung von beruflich und privaten Kontakten, die Tabuisierung von Sexualität und sexualisierter Gewalt, Vertrauen und Abhängigkeiten im besonderen Kontext von Glauben und Spiritualität.

Eine Kirche, die von all ihren Mitarbeitenden einen sensiblen und respektvollen Umgang mit den ihr anvertrauten Menschen erwartet, und den Auftrag des Gewaltschutzgesetzes damit umsetzt nämlich Schutz- und Kompetenzort zu sein:

Niemand soll (sexualisierte) Gewalt in unseren kirchlichen Angeboten erfahren.

„Wer kirchliche Angebote der Evangelischen Landeskirche in Württemberg wahrnimmt oder entsprechend § 1 Absatz 5 in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg mitarbeitet, ist vor allen Formen sexualisierter Gewalt zu schützen“ §2 Abs. 1 AGSB

Es kann nicht (mehr) sein, dass der Schutzraum für Schutzbefohlene ein Schutzraum für Täter*innen ist. Wünschen würden wir uns, dass die Kirche sich einfach auf ihren ureigenen Auftrag besinnt und damit ein Raum ist, in dem alle Gottes Liebe teilen und erfahren können. Wie in dem Lied beschrieben wird: „Komm, bau ein Haus, das uns beschützt! Pflanz einen Baum, der Schatten wirft. Und beschreibe den Himmel, der uns blüht…“.

Das Interview führte: Martin Kleineidam, Redaktion der Anstöße