In Würde leben - in Würde sterben

Denkanstöße des Vorstands der „Offenen Kirche – Evangelische Vereinigung in Württemberg“ zu (ärztlich) assistierter Sterbehilfe

Im Mai 2021
Das oberste Gericht Deutschlands, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist dafür zuständig, unser Grundgesetz zu verteidigen. Es hat am 26. Februar 2020 erklärt, dass § 217 des Strafgesetzbuches mit unserem Grundgesetz nicht zu vereinbaren sei. Dieser § 217 hatte im Dezember 2015 die „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ verboten. „Geschäftsmäßig“ heißt in diesem Zusammenhang nicht eine kommerzielle, sondern eine wiederholte Sterbehilfe durch Personen oder Vereine.

Das Urteil bezeichnet die Selbstbestimmung des Menschen als ein äußerst wichtiges Recht der Persönlichkeit. Es ergeht in einer Zeit, in der der Begriff „Würde des Menschen“ vom Bundesverfassungsgericht anders definiert wird als zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes.

Seit einigen Monaten wird dieses Urteil zur Hilfe beim Freitod („assistierter Suizid“) von einigen evangelischen Theologinnen und Theologen sowie Ärztinnen und Ärzten aufgenommen und diskutiert. Darunter sind der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, ein Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sowie der Vorsitzende der „Kammer für Öffentliche Verantwortung“ der EKD, Prof. Dr. Reiner Anselm. Sie sind dafür, dass kirchliche Einrichtungen (Altenheime, Krankenhäuser) bestmögliche Palliativversorgung gewährleisten, sich darüber hinaus aber auch der Hilfe beim Freitod nicht verschließen sollen.

Viele Personen der Kirche sowie zahlreiche kirchliche Organisationen haben sich inzwischen auch zu dem Thema Würde und Selbstbestimmung im Leben und Sterben geäußert. Deutlich ablehnend äußerten sich alle katholischen Bischöfe („enttäuscht über Aufhebung von Suizidhilfe-Verbot“) und auch viele evangelische Bischöfe („Bedauern über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des Verbots von Sterbehilfe“; „Assistierter Suizid ist Akt der Gewalt“; „Fünftes Gebot ist klarer Auftrag, sich für den Schutz des Lebens einzusetzen“).

Auch die meisten kirchlichen Einrichtungen reagierten auf das Urteil ablehnend, so z.B. das Diakonische Werk Württemberg („Sterben an einer Hand statt durch eine Hand“, „Wir treten für ein selbstbestimmtes Sterben ohne Selbsttötung ein“). Am abgewogensten argumentiert eine gemeinsame Stellungnahme der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Evangelischen Landeskirche in Württemberg vom September 2020. Allen diesen Stellungnahmen aber ist gemeinsam, dass sie im Grunde eine bevormundende Haltung dem sterbewilligen Menschen gegenüber einnehmen. Sie vertreten nicht ein uneingeschränktes und befreiendes Bekenntnis zur selbstverantwortlichen Bestimmung des Menschen über sein eigenes Leben und Sterben.

Der Vorstand der „Offenen Kirche – Evangelische Vereinigung in Württemberg“ möchte in dieser Frage eine Diskussion anregen und die folgenden Gesichtspunkte zu bedenken geben.

Rechtliche Gesichtspunkte
Freitod ist in Deutschland seit 170 Jahren keine Straftat. Deshalb kann auch eine passive Hilfe beim Suizid nicht strafbar sein. Eine Bestrafung wegen Beihilfe setzt eine rechtswidrige, strafbare Haupttat voraus.

Erst durch den ins Strafgesetzbuch (StGB) neu eingeführten § 217, der ab 10. Dezember 2015 gültig wurde, hatte der Bundestag eine neue Rechtslage geschaffen. Dieser § 217 sollte kommerzielle Sterbehilfe verhindern. Gegen dieses Gesetz hatten sich bereits im April 2015, also in seiner Entstehungsphase, 150 Strafrechtsprofessor*innen und -privatdozent*innen gewandt, u. a. mit folgender Begründung: „Eine Strafbarkeit der Suizidbeihilfe schränkt das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Selbstbestimmung unverhältnismäßig ein ...“

Zu dieser Überzeugung kam auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Es erklärte in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 den § 217 StGB für verfassungswidrig. „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht“, so das höchste deutsche Gericht, „umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen.“

Das BVerfG betont auch nachdrücklich: Der einzelne Mensch muss sich frei entscheiden können. Er muss davor geschützt sein, von außen beeinflusst zu werden oder den Erwartungen der Umgebung zu entsprechen. Das BVerfG erkannte in den sehr ausführlich beschriebenen Gründen an: Der Gesetzgeber ist berechtigt, zur Prüfung der Ernsthaftigkeit und Freiwilligkeit eines Entschlusses zum Suizid nähere Regelungen zu beschließen, auch zur fachlichen Hilfe beim Suizid. Hilfe durch Dritte darf nicht grundsätzlich verboten werden, auch wenn diese Hilfe häufiger als im Einzelfall erfolgt. Andernfalls würde die grundgesetzlich geschützte Freiheit des Einzelnen zu sehr eingeschränkt.

Das weltliche Strafrecht ist grundsätzlich religionsneutral. Wären Suizid oder Suizidversuch ein strafbares Unrecht, würde eine allgemeine Rechtspflicht zum Leben vo- rausgesetzt. Diese widerspräche den Grundlagen des Rechts. Deshalb kann auch die Hilfe zu einem frei verantworteten Suizid nicht als strafbares Unrecht gelten. Der Einzelne mag gegenüber seinen Angehörigen und dem Staat in vielfacher Hinsicht Pflichten haben, solange er lebt. Er ist dem Staat oder seinen Angehörigen gegenüber aber nicht verpflichtet zu leben.

Das Bundesverfassungsgericht hat damit ein misslungenes und von Juristen bereits in seinem Entstehungsprozess als verfassungswidrig bezeichnetes Gesetz endgültig als „verfassungswidrig“ beurteilt. Es ist deshalb nicht angemessen, „Enttäuschung“ über das Urteil des BVerfG zu äußern oder den Richterspruch „zu bedauern“.

Das Urteil fordert die Selbstbestimmung im Sterben nicht nur für das Ende eines zur Qual gewordenen Lebens, sondern auch in anderen Zeiten des Lebens. Es bezieht sich nicht nur auf schwerwiegende Einzelfälle, sondern gilt in allen Situationen des Lebens und des Sterbens als eine umfassende Grundlage. Andererseits wird in dem Urteil auch klar darauf hingewiesen: eine Verpflichtung zur Suizidhilfe darf es nicht geben, auch nicht für Ärzte.

Ärztliche Gesichtspunkte
Ärztinnen und Ärzten steht in der Frage des „assistierten Suizids“ das Schicksal vieler Patientinnen und Patienten vor Augen: Schwerkranke Menschen, denen ihre Schmerzen durch Medikamente erträglich gemacht wurden, aber auch Kranke mit unerträglichem Leiden, denen das Leben zu einer für sie untragbaren Last geworden ist.

Solchen Kranken bei ihrem dringlichen und nachhaltig vorgetragenen Wunsch nach einer Beendigung ihres Leidens, ihres Lebens, helfend zur Seite zu stehen, ist eine zutiefst mitmenschliche Aufgabe. Diese kann geschehen durch Betäubung im Endstadium ihrer Erkrankung oder durch Hilfe beim selbstbestimmten Suizid.

Solch schwere Erkrankungsverläufe gibt es nicht ganz selten, z.B. bei Frauen mit aggressivstem gynäkologischem Tumor, bei Patienten mit bösartigem Hirntumor, bei Menschen mit anderen, z.B. neurologischen Erkrankungen, oder bei Menschen mit zerfallendem Mundbodenkrebs, die sich wegen des zerstörenden Tumors im wahrsten Sinne des Wortes „nicht mehr riechen können“. Das sind Menschen, die ihr Lebensende sehnlich herbeiwünschen.

Medizinische Gesichtspunkte
Eine große Zahl deutscher Palliativmediziner ist der Überzeugung, dass die Schmerz- und Palliativmedizin bei etwa 98% der schwerstkranken, unter Schmerzen leidenden und sterbenden Patienten hoch wirksam ist. Sie wirkt aber bei mindestens bei 2 von Hundert solcher Patienten nur unzureichend. Manche dieser Menschen sehnen ihren Tod herbei. Wer kann ihnen verdenken, dass sie sich ein „leichtes“ Sterben wünschen?

Von Politik, Gesellschaft und Kirche wird mit Recht immer wieder der weitere Ausbau der Palliativmedizin gefordert. Sie löst aber eben nicht die Probleme aller schwerstkranken Menschen. Palliativmedizinische Patientenversorgung ist ohnehin keine Alternative zu einem Selbsttötungsentschluss, der in freier Selbstbestimmung gefasst wurde. Zudem gibt es keine Pflicht, palliativmedizinische Behandlungsangebote in Anspruch zu nehmen.

Arztrechtliche Gesichtspunkte
Die Bundesärztekammer bedrohte nach § 16, Satz 3 der Muster-Berufsordnung ärztliche Beihilfe zum Suizid mit Entzug der ärztlichen Zulassung. Der bei Einführung des § 217 ins StGB amtierende Präsident der ärztlichen Standesorganisation (und heutige Präsident des Weltärztebundes) legte 2015 dar, Ärzte könnten schon deshalb keine Beihilfe zum Suizid leisten, weil es dafür keine Abrechnungsziffer gäbe. Das war eine fassungslos machende Argumentation! Der 124. Deutsche Ärztetag strich auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts Anfang Mai 2021 den Satz „Der Arzt darf keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“ aus der Muster-Berufsordnung.

Die Landesärztekammer Baden-Württemberg hatte zusammen mit sechs weiteren Landesärztekammern stets eine entschieden andere Haltung zur Suizidbegleitung. In ihrer für alle Ärztinnen und Ärzte in Baden-Württemberg heute noch gültigen, verbindlichen Berufsordnung stellt sie fest: „Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und Achtung ihres Willens beizustehen.“ Und sie formulierte die Entschließung: „Neue gesetzliche Regelungen für Sterbehilfe bzw. den sogenannten ‚assistierten Suizid’ werden abgelehnt. Die bestehenden Regelungen sind ausreichend. Letzte und höchst individuelle Fragen und Entscheidungen über den eigenen Tod müssen als oberstes Gut behandelt werden. Auf der Basis einer umfassend informierten Selbstbestimmung sollte der Tod vertrauensvoll mit dem Arzt und den nahen Angehörigen besprochen werden.“

Gesichtspunkt gesellschaftlicher Erwartungsdruck
Das Argument, das immer wieder gegen den assistierten Suizid vorgebracht wird, lautet: Durch den jetzt wieder gesetzlich möglichen assistierten Suizid steige der moralische und gesellschaftliche Druck auf Sterbenskranke, ihr Leben zu beenden. Sicher haben sich die Einstellungen der Menschen, ihre Denkgewohnheiten, kulturellen Prägungen und Werteauffassungen in den letzten Jahren geändert. Allerdings wird völlig vergessen, dass die Hilfe beim Suizid seit 170 Jahren straffrei ist. Das Argument, dass es einen neuen Druck von außen gibt, ist also offensichtlich falsch. Es gibt einen solchen „Dammbruch“ nicht, wir bewegen uns in der Regel nicht auf einer „slippery slope“ – auch wenn in der Schweiz, in den Niederlanden und in Belgien in den letzten Jahrzehnten die Unterstützung beim Suizid stärker nachgefragt und diese Wahlmöglichkeit gewachsen ist. Dennoch sagen große Teile der evangelischen Kirchen in diesen Ländern, dass sie mit dieser Praxis gut zurechtkommen können.

Untersuchungen z.B. in Oregon/USA zeigen, dass sich durch die offizielle Zulassung des ärztlich assistierten Suizids weder die Zahl der Selbsttötungen wesentlich erhöht hat noch das Vertrauensverhältnis Patient/Arzt gestört worden ist. Im Gegenteil scheint dieses Vertrauen eher gewachsen zu sein, weil Patienten in kritischen Lebenssituationen zunehmend bereit sind, sich mit ihren Fragen an ihre Ärztin, ihren Arzt zu wenden, sich ihr oder ihm anzuvertrauen. Menschen können ihr Leiden Tag für Tag eher ertragen, wenn sie wissen: Die Einfühlsamkeit ihres Arztes begleitet sie in ihrem Leiden und in ihrem Sterben. Sie begleitet sie in einzelnen Fällen auch in den Tod. Ziel muss es also sein, möglichst viele Menschen mit Sterbewunsch zu erreichen, um so die Zahl der Suizide zu senken. Dazu aber ist das Strafrecht ein gänzlich ungeeignetes Mittel.

Kirchliche, biblisch-theologische und ethische Gesichtspunkte
Welche Argumente werden in der Frage des assistierten Suizids kirchlicherseits vorgebracht? Und welche leiten uns als Menschen, die in der Kirche engagiert sind?

Führende Theologinnen und Theologen unserer Kirchen argumentieren in der Frage der Sterbehilfe sehr unterschiedlich, insbesondere wenn man die Positionen innerhalb der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa anschaut. Nicht selten werden in ihren Stellungnahmen gar die von niemandem in Politik und Kirche geforderte strafbare aktive mit der straffreien passiven Sterbehilfe durcheinandergeworfen, so in Deutschland durch hohe katholische und evangelische Kirchenleitende.

In einer noch heute gültigen Stellungnahme von November 2014 des Deutschen Ethikrates, in dem auch die Kirchen prominent vertreten sind, herrscht Einigkeit darüber, „dass die ärztliche Suizidbeihilfe als Gewissensentscheidung im Einzelfall möglich sein soll, ohne dass sie ein reguläres Angebot der Ärzteschaft oder die Aufgabe einer Ärztin oder eines Arztes wäre“.

In der Bibel werden – je nach Zählung und Zusammenstellung des Kanons der biblischen Bücher – bis zu zehn Suizide erwähnt, ohne dass sie auch nur in einem dieser Berichte als beste oder schlechtest mögliche Wahl beschrieben werden. Bei der biblischen Bewertung ist in allen Fällen der einfühlsame Respekt vor der Selbsttötung als einem letzten Ausweg aus einer auswegslosen Situation deutlich zu spüren. Es gibt offensichtliche menschliche Grenzen, wo ein Weiterleben nicht zumutbar ist. Da erfordert die Achtung vor der menschlichen Entscheidung den Verzicht auf jedes moralische Urteil.

Insofern lehren uns die biblischen Darstellungen, dass Suizid ein menschlicher Grenzfall ist, der sich allen einseitigen Bewertungen widersetzt. Es muss dem Gewissen des Einzelnen überlassen bleiben, ob er die mitmenschliche Aufgabe übernimmt, beim Suizid zu begleiten. Diese Entscheidung kann weder an kirchliche noch ärztliche Autoritäten delegiert werden.

Kirchliche Autoritäten äußern sich in Fragen der Tötung ohnehin sehr uneinheitlich. So befürworten sie als letzte Möglichkeit zum Schutz vieler Menschenleben den Export und Einsatz tödlicher Waffen und die Entsendung deutscher Soldaten in Krisengebiete. Andererseits verweigern sie schwer leidenden Menschen – mit Verweis auf das einmalige Geschenk des gott-gegebenen Lebens – strikt Hilfe bei einem selbstbestimmten, ersehnten eigenen Lebensende. Dabei müsste die Kirche dort mitmenschlich sein, wo Mitmenschlichkeit gefordert ist. Für Christen ist die Liebe zum leidenden Menschen der entscheidende, nicht zu überbietende Leitgedanke. Sie ist begründet in der Liebe und im Erbarmen eines mitleidenden Gottes, der sich in besonderer Weise den Schwachen, den Verwundbaren, den Zerbrochenen zuwendet.

Gewiss ist es in religiösen Kontexten durchaus angemessen, das menschliche Leben als Geschenk Gottes zu begreifen. Es ist dem einzelnen Menschen nur anvertraut, er kann darüber nicht selbstherrlich verfügen. Etwas anderes ist es jedoch, wenn ein Mensch in einer ausweglosen Situation diese Gabe an Gott, den Geber zurückgibt, begründet in einer Gewissensentscheidung, bei der das Recht und die Grenzen menschlicher Selbstbestimmung bedacht sind.

Dazu kommt: Die unüberwindbare Schwierigkeit eines solchen religiösen Ansatzes ist, dass er nicht verallgemeinert werden kann in einem weltlichen Strafrecht. Dessen Strafregelungen müssen für alle Staatsbürger überzeugungskräftig und verbindlich sein, also auch für jene Staatsbürger, die nicht an Gott glauben bzw. anderen religiösen Vorstellungen anhängen.

Seelsorgerliche Gesichtspunkte
Die Aussage, dass Menschen sich nach ihrem Tod sehnen, begegnet einem in den verschiedensten Lebenssituationen: Im Pflegeheim, im Krankenhaus, im Hospiz wie auch im ganz „normalen“ Leben. Wichtig ist, dass Menschen, die solche Wünsche äußern, jemanden finden, der mit ihnen über das dahinterstehende Lebensgefühl einfühlsam und auf eine offene, wertschätzende Weise sprechen kann.

Gegenüber dem oft vorschnell vorgebrachten theologischen Argument, dass Gott das Leben will und nicht den Tod, gibt es auch die feste Überzeugung vieler Menschen, dass sie sich auch „vor der Zeit“ an Gott wenden dürfen, wenn sie das Leben nicht mehr (er)tragen können. Gott ist in jedem Fall ein Gott in Verbindung und Beziehung – es geht also implizit auch um den Gottesbegriff.

Wir können davon ausgehen, dass in jeder Lebenssituation von Menschen Seelsorgerinnen und Seelsorger da sind, die sprachfähig, empathisch und auf das Gegenüber konzentriert sind; Menschen, die verstehen, wertschätzen und annehmen wollen. Dies gilt ebenso für den stationären wie für die ambulanten medizinischen und pflegenden Bereiche.

Immer wieder werden auch Gemeindepfarrerinnen und -pfarrer solche Kontakte haben und wir sind froh, wenn das geschieht – eine gute Seelsorge-Ausbildung vorausgesetzt. Denn es bedeutet eine große seelsorgerliche Chance für einen Menschen in einer suizidalen Krise, wenn seine Autonomie wertschätzend respektiert wird.

Wer Unterstützung im Falle eines assistierten Suizids sucht, muss auf eine Beratung treffen, die diesem Anliegen offen gegenübersteht und die Motive ohne Wertung zu verstehen sucht. Dann kann aber, das ist zu hoffen, auch auf Alternativen hingewiesen werden wie therapeutische Angebote.

Seelsorgerinnen und Seelsorger werden in der Regel auch versuchen, Angehörige miteinzubeziehen. Im Blick darauf ist zu bedenken: Für die Angehörigen, das familiäre Umfeld und den Freundeskreis bedeutet der Wunsch nach einem assistierten Suizid und seine Umsetzung eine große Herausforderung und seelische Belastung. Je nach Art der Beziehung zu den Sterbewilligen können die Belastungen und auch der Trauerprozess recht unterschiedlicher Art sein. Es kann zu Schuldgefühlen kommen oder nach dem Tod zu Ängsten vor negativen Reaktionen des Umfelds. Das Angebot der Seelsorge sollte also auch nach dem Tod bestehen bleiben.

Offene Gespräche über Sterbewünsche lassen sich nicht in diakonischen oder kirchlichen Einrichtungen führen, die sich dem Wunsch nach assistiertem Suizid prinzipiell verschließen. Allerdings gehört es auch nicht zu ihren Aufgaben, von sich aus Suizidhilfe anzubieten.

Es geht also darum, ein offenes Ohr für Suizidwillige zu haben, und den Sterbewunsch nicht zu tabuisieren. Gerade damit dienen Seelsorgerinnen und Seelsorger wie auch Ärztinnen und Ärzte der Suizidprophylaxe.

Neben dieser individuellen Perspektive ist auch die gesellschaftliche Blickrichtung zu beachten. Druck auf alte und behinderte Menschen muss unbedingt vermieden werden. Im Blick auf den einzelnen Menschen aber bleibt es dabei: Zuwendung, ja Liebe zum Nächsten ist für Ärztinnen und Ärzte, ist für Christinnen und Christen der entscheidende, nicht zu überbietende Leitgedanke. So kann die Beihilfe zum Suizid vom Liebesgebot her geboten sein und sie zu verweigern das Liebesgebot verletzen. Das sehen auch viele Theologinnen und Theologen so. Sie respektieren die Entscheidung zum assistierten Suizid aus eigenständig gebildetem, freien Willen als verantwortlichen Umgang mit dem eigenen Leben. Sie haben also Respekt vor der gereiften Entscheidung des Betroffenen, anstatt ihn in seiner Entscheidung zu bevormunden.

Schlussbemerkung
Aus Ehrfurcht vor dem Leben und zum Schutz der Gemeinschaft sollten Gewissensentscheidungen für einen (assistierten) Freitod Ausnahmefälle bleiben und keine übliche Weise werden, das Leben zu beenden. Dazu müssen die vom Bundesverfassungsgericht geforderten neuen gesetzlichen Regelungen entwickelt werden. Inzwischen sind fünf Vorschläge für solche Schutzgesetze vorgelegt worden. Sie sollen noch vor der Bundestagswahl im September 2021 im Parlament beraten werden. Es geht dabei um ein Schutzkonzept, das für den Betroffenen gewährleistet, dass sein Sterbewunsch tatsächlich auf seinem freien Willen fußt. Dieser wichtige Gesichtspunkt sollte jedoch nicht dazu dienen, das Recht auf Selbstbestimmung zu bestreiten. Grundsätzlich ist der Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben zu respektieren.

Zusammenfassung
1. In den Mitgliedskirchen der EKD, ihren diakonischen Arbeitsfeldern und in der säkularen Gesellschaft wird die uns als Christinnen und Christen herausfordernde Debatte um den (ärztlich) assistierten Suizid zurzeit intensiv geführt.

2. Mit diesen „Denkanstößen“ wollen wir an dieser Debatte teilnehmen, sie zusam-menfassen und aus unserer Sicht bewerten. Diese Impulse sollen zu eigener Klärung beitragen und zur Entscheidungsfindung ermutigen.

3. Im besten Falle können sie auch eine Rolle spielen in der Vorbereitung notwendiger und vom BVerfG geforderter neuer gesetzlicher Regelungen.

 

Der Vorstand: Birgit Auth-Hofmann, Pamela Barke, Ruth Bauer, Elke Dangelmaier-Vincon, Johannes Dürr, Matthias Hestermann, Dieter Hödl, Gerlinde Hühn, Dr. Harald Kretschmer, Ulrich Maier, Prof. Dr. Martin Plümicke, Erika Schlatter-Ernst