Brief der Amos-Preisträgerin Sumaya Farhat-Naser

Sumaya Farhat-Naser schreibt einen Brief an die Freundinnen und Freunde in Deutschland. Die Amos-Preisträgerin von 2011 aus Palästina spricht von Veränderungen, Verantwortung und Verbundenheit

Sumaya Farhat-Naser

3. September 2020

Liebe Freunde,

herzlichen Dank für die Unterstützung und Begleitung, die wir stets erhalten. Euer Beistand und die Vermittlung von Ideen und Gedanken sowie Zeichen des Mitgefühls und die finanzielle Unterstützung, ermöglichen Friedenserziehung, Fortbildung, Motivierung und Coaching von Frauen und Jugendlichen in Palästina. Gerade in dieser schweren Zeit der Pandemie und der katastrophalen politischen Situation, brauchen wir Stütze und Impulse, die Perspektive zeigen. Wir dürfen nicht schwach werden oder uns beirren lassen. Daher haben wir keine andere Wahl als uns noch mehr anzustrengen und zu arbeiten, damit die Hoffnung erhalten bleibt.

Freunde baten darum, über die Situation zu berichten, und hier schreibe ich:

Die Probleme um uns werden mehr und das ist eine Herausforderung, die uns verpflichtet, uns noch mehr anzustrengen und aktiv zu bleiben. Die Schulen sind geöffnet worden nach sieben Monaten Schliessung. Es ist schwer, die Kinder wieder in den Griff zu bekommen, aber sie freuen sich, sich wieder zu treffen. Vieles muss über Internet vermittelt werden und E-Learning wird zunehmend gefordert. Doch sehr viele Häuser haben weder Computer noch Internetanschluss. Lehrerinnen und Lehrer werden in die neuen Lehrmethoden eingeführt. Aber sehr viele Mütter brauchen dringend Computer-Kurse und Zugang zu Computern und Internet. Das Geld hierfür fehlt. Viele haben ihre Arbeit verloren. Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes bekommen seit fünf Monaten nur ein Drittel des Gehaltes, manche Krankenhäuser und private Betriebe auch. Die palästinensischen Behörden haben kaum Geld. Die den palästinensischen Behörden zustehenden gesammelten Zoll- und Steuergelder seitens Israels werden seit Monaten um ein Drittel gekürzt. Die Summe, die zur Versorgung der Familien von gefangenen und getöteten Palästinensern bestimmt ist, wird einfach nicht ausgehändigt. Als Besatzungsmacht nimmt sich Israel das Recht, über alles zu bestimmen.
Israel bestraft die Familien, weil ihre Kinder und Männer, aufgrund des Widerstandes, gefangen genommen oder getötet werden.  Aber wovon sollen sie leben? Solche Massnahmen schaffen neuen Widerstand und noch mehr Jugendliche werden gegen Israel kämpfen wollen, um zu überleben. Es ist ein Teufelskreis. Die Spenden vom Ausland sind weniger geworden auch an NGO’s, Schulen und Institutionen. Die Pandemie verbreitet sich stark und bringt Not und Armut mit sich. Es fehlen die nötigen medizinischen Versorgungsmassnahmen. Ein grosses Problem ist die Nicht-Einhaltung der Gesundheitssicherheitsmassnahmen seitens vieler Menschen. Trotz Strafen und Aufklärung wollen viele nicht sich einfügen.

Politisch feiern manche Golfstaaten und Israel «Normalisierung» und nennen es Friedensabkommen. Normalisierung ist etwas Schönes unter normalen Staaten und Frieden schaffen ist wunderbar zwischen verfeindeten Ländern. Das schönste wäre, wenn Israel mit Palästina Normalisierung machte und der Frieden zwischen Israel und Palästina gefeiert würde. Doch die gemachte Politik von Israel und USA gegenüber den Palästinensern beruht auf Ausblendung und Verachtung der legitimierten existenziellen Bedürfnisse der Menschen. Mit Gewalt wird Politik bestimmt und erzwungen.

Die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrein, Sudan oder Oman haben niemals Krieg mit Israel gehabt oder Soldaten zum Kampf geschickt. Seit mehr als zwanzig Jahren existieren wirtschaftliche, militärische, strategische und Sicherheitsbeziehungen zwischen Israel und den Golfstaaten, allerdings unter dem Tisch. Heute werden sie bekannt gegeben, weil das wichtig für die Wahlen in den USA ist und um die Politik Israels zu verschönern. Es ist ein Versuch, die Augen zu verschliessen vor den existenzbedrohenden Massnahmen, die Israel in den besetzten Gebieten macht. Es wird gefeiert und der Eindruck verbreitet, Frieden sei eingetreten, aber in Palästina geht die Besiedlung und Annexion verstärkt weiter. Landwegnahme, Häuserzerstörung, Gefangennahme von Menschen und Erweiterung von Siedlungen werden wie nie zuvor verstärkt durchgeführt.  Im Jordantal, das offiziell annektiert werden sollte, sind alle 15 unterirdischen Wasserbrunnen, die die gesamte Landwirtschaft der Palästinenser bewässern, verschüttet und die Lizenz für deren Nutzung aufgehoben worden. So kann die Landwirtschaft nicht mehr betrieben werden. Die Bauern werden gezwungen, das Land zu verlassen, damit die Besiedelung fortschreitet und Annexion leichter möglich wird. Die Palästinenser hatten Hoffnungen, gegenseitige diplomatische Beziehungen und Normalisierung der Beziehungen zwischen allen arabischen Staaten und Israel würden auch Palästina einschliessen. Daher sind Enttäuschungen, Verbitterung und Gefühle des Verrats bei den Palästinensern geweckt worden.

Der «Jahrhundert-Deal«, von Trump verkündet als die Lösung, die erzwungen werden soll, um den Nahost-Konflikt zu beenden, war von Netanyahu und drei jüdisch-amerikanischen Politikern (Koshner, Greenblatt und Friedmann) entworfen und zur Bestätigung dem Präsidenten zum Verkünden vorgelegt worden. Die Palästinenser sind total umgangen und mit Überheblichkeit und Verachtung begegnet worden, und diese Haltung dauert an. Die Annexion von mehr als einem Drittel der Westbank ist keineswegs widerrufen, sondern nur verschoben, denn sie ist im Jahrhundert-Deal enthalten. Tatsache ist, dass die Annektierung am Boden fortschreitet. Die offizielle Verkündung der Annektierung soll Souveränität auf dem Gebiet legitimieren und im grossen Masse das Konfiszieren von Privatland ermöglichen. Das annektierte Land würde dann von Verhandlungen ausgeschlossen sein.

Aus Protest und wegen der totalen Aussichtslosigkeit haben die palästinensischen Behörden die Sicherheits-Koordination im Bereich ziviler Angelegenheit mit Israel gestoppt. Mit gedemütigten und zerknickten Menschen kann nie Vertrauen und wahrer Frieden wachsen. Die Wirkung ist noch mehr Leiden. Es zeigt aber auch, was es heisst, unfrei und völlig von der Militärbesatzung abhängig zu sein. Jegliche Perspektive für ein normales Leben wird behindert. Weder Planung noch Durchführung von Wirtschafts-, Bildungs- und Zukunftsplanung können ohne Bewilligung Israels stattfinden. Das ist ein Druckmittel, um die Interessen allein Israels zu sichern. Mehr als hunderttausend Arbeiter sind auf Lohnarbeit in Israel angewiesen. Unter schweren und ungerechten Bedingungen arbeiten sie, weil sie überleben wollen. Mittelsmänner aus Israel und Palästina besorgen die Arbeitsgenehmigung. Diese Genehmigungen werden vergeben mit der Bedingung, dass jeder Arbeiter ein Viertel seines Tageslohnes an die Vermittler abgibt. Es gibt keinerlei Schutz. Besatzung macht beide Seiten korrupt.

Wer Macht hat, diktiert das Geschehen. Die Interessen der USA und Europas sind an die Interessen Israels geknüpft. Sie tun, was Israel verlangt, unbeachtet internationaler- und Menschenrechtskonventionen. Sie schweigen und lassen zu, dass die in Friedensverhandlungen erreichten Einverständnisse nicht mehr gelten.

Die Golfstaaten werden von feudalen, diktatorischen Regimen beherrscht. Die Emire und Könige bangen um ihre Reiche. Israel und USA haben es geschafft, die Golfstaaten zu überzeugen, dass Iran sie bedroht und dass Israel allein ihnen Sicherheit gewährleisten kann. Die Golfstaaten haben viele amerikanische und europäische Militärstützpunkte und sie sind voll mit hochmodernen Waffensystemen, die sie kaufen müssen, doch die nur von den Fremdschutzmächten gebraucht werden. Der Krieg im Jemen wird von Saudi-Arabien, Bahrain und den Emiraten geführt gegen einen Teil der Jemeniten, die mit Iran verbündet sind. Es geht hier um Beherrschung der Region. Vor zwei Jahren haben die Emirate mit Unterstützung von Saudi-Arabien die jemenitische Insel Sokatra am Ostausgang des  Golfs von Eden besetzt. Die Emirate und Israel wollen auf dieser Insel eine Militärstützstation aufbauen für militärische und Spionage-Aktivitäten. Es entsteht eine Allianz von Israel und den Golfstaaten gegen Iran und Oppositionelle der jeweiligen Regime. Diese Allianz wird von den Nachbarstaaten als eine Bedrohung verstanden. Wann machen wir eine Allianz für Frieden? Das würde viel weniger kosten und würde viel Leid und Not ausräumen.

Die Politik heute, von den Mächtigen geführt, basiert auf Beherrschung von Ressourcen, wie Erdöl- und Gasvorkommen. Konflikte und Kriege werden innerhalb der Länder und Regionen initiiert und gefördert, damit das Waffengeschäft noch mehr wuchert. Das Leben der Menschen zählt in dieser Zeit viel weniger in den Köpfen der Macht- und Geldgierigen, den Waffenproduzenten und Waffenverkäufern. Und genau diese eifern dann, um Friedensverhandlungen unter den verfeindeten Seiten zu verwalten.

Meine Arbeit mit Frauen und Jugendlichen geht hauptsächlich via Internet und Telefon, manchmal persönliche Begegnung unter strenger Vorsicht und Befolgung der Gesundheits-Sicherheitsmassnahmen. Die Arbeit konzentriert sich auf Beratung und Besprechung von Themen, die zu ihrer Selbststärkung und Motivation wie auch Ermutigung zur Hoffnung und Kreativität schaffen. Es geht darum, den Kindern und Jugendlichen Handfertigkeiten zu vermitteln, wie sie mit der schwierigen Zeit zurechtkommen, Bildung und Qualifizierung als Hauptziel behalten, sich schützen und bestens anpassen.

Wegen der Pandemie konnte meine Lese- und Vortragsreise in Mai 2020 nicht stattfinden und die geplante Reise für November 2020 scheint auch schwer zu machen sein. Um den 20. Oktober entscheide ich mich, ob die Termine in der zweiten Hälfte November möglich sein werden oder nicht. Die Begegnungen sind immer wichtig zum Berichten und Aufklären und sie ermöglichen Unterstützung für die Arbeit, die weiter gehen muss.

Denn Kontinuität schafft Hoffnung, und Hoffnung kommt durch die kleinen gesammelten Erfolge, die jede und jeder durch Bildung und Arbeiten an sich selbst erfährt. Wirkung von Erfolg und Freude sowie Erfahrung der positiven Stärke ermöglichen gutes Wohlbefinden und bewahren Sinn und Glauben an Werte der Menschlichkeit.

Wir wollen glauben, hoffen und vertrauen.

Liebe Grüsse und alles Gute
Sumaya Farhat-Naser

3. September 2020