Margot Käßmann: In der Mitte des Lebens

Buchbesprechung

In meiner früheren Gemeinde ist es üblich, dass die jeweiligen Jahrgänge ein gemeinsames Fest feiern, das sie mit einem ökumenischen Gottesdienst beginnen. Dies führte dazu, dass ich als Gemeindepfarrer immer wieder zum 50., 60., 70. usw. etwas zu predigen hatte. Nun konnte man keineswegs jedes Jahr dasselbe sagen, weil immer viele Angehörige und Nachbarn verschiedener Generationen dabei waren. Also musste ich mir jedes Jahr überlegen, was ich zur „Mitte des Lebens“ aus biblischer Sicht zu sagen habe. Schaue ich meine Predigten heute an, fällt mir auf, dass sie sehr aus der männlichen Perspektive formuliert sind. Wie kann es auch anders sein? Deswegen finde ich es sehr lehrreich, das Buch von Margot Käßmann zu lesen, die eindeutig aus weiblicher Sicht über die Lebensmitte nachdenkt. Das tut sie als Bischöfin, als Theologin, als Mutter von vier Kindern und Freundin von unzähligen Menschen, mit denen sie intensive Beziehungen unterhält. Manches kennt man schon von ihren öffentlichen Auftritten, anderes ist neu zu lesen. Besonders eindrucksvoll ist sicherlich die Beschreibung ihrer eigenen Krebskrankheit. Hingegen verwundert, dass sie zwar ihre Scheidung erwähnt, aber den Namen ihres Mannes und die näheren Umstände nicht ein einziges Mal erwähnt, obwohl doch sogar ihr Hund namentlich genannt wird.

Was ihre Sicht der Dinge von anderen Ratgebern unterscheidet, ist nicht nur die spirituelle und theologische Gewichtung, sondern auch die bewusst weibliche Wahrnehmung. Veränderungen des Körpers werden nun einmal von einer Frau intensiver erlebt als vom Mann. Neu war mir der Gedanke, den sie vom Zoologen Dawkins übernimmt, der beschreibt, dass biologische Eltern Gene weitergeben, aber die Gesellschaft insgesamt, also auch die kinderlosen, „Meme“ tradieren: Ein Bewusstsein für die Kultur und Tradition, für die Werte einer Gesellschaft. „Wir sind gemeinsam verantwortlich für die Weitergabe der Meme, der Kultur, der Tradition, der Werte unserer Gesellschaft, ja, auch unseres Glaubens.“ S. 18 f. Das Buch strotzt voller Lebenslust, was in der Kirche doch ungewöhnlich ist. Mitunter zeigt sich das sogar in einer recht flotten und legeren Sprache. Dass sie auch politisch auf der Höhe der Zeit ist, spürt man in jedem Kapitel.  Mit Recht weist Käßmann darauf hin, dass erst jetzt Frauen ihr Leben selbst gestalten können und eine Wahlfreiheit haben wie nie zuvor in der Geschichte. Es ist zu vermuten, dass auch Frauen in traditionellen Gesellschaften diese Freiheiten genießen würden. Dass damit kein Weg in die Dekadenz und Glaubenslosigkeit beginnt, zeigt dieses Buch sehr eindrücklich.

Als Bischöfin Käßmann zur EKD-Ratsvorsitzenden gewählt wurde, gab es nicht nur evangelikale Kritiker,  sondern auch Ökumeniker, die  negative Folgen für die interkonfessionellen Beziehungen  befürchteten.  Besonders scharfe Reaktionen aus katholischen und orthodoxen Kreisen wurden erwartet. Tatsächlich kamen aus Russland unfreundliche Signale. Vielleicht sollte man darum dieses Buch ins Russische übersetzen, damit man auch im Osten endlich Anschluss findet an das christliche Bewusstsein der Moderne. Den Evangelischen ist zu wünschen, dass sie ihre Frauenordination international selbstbewusst und theologisch gründlich bekräftigen.

Herder Verlag, Freiburg, 2009, S. 159, € 16,95

24.11.09