GESCHICHTE DER OK

Von der „Offenen Gemeinde“ zur „Offenen Kirche“

Für Hermann Söhner beginnt die gefühlte Offene Kirche schon 1961. Er ist einfach so hineingewachsen in die Aufbruchstimmung, die dann tatsächlich zu ihrer Gründung führte.
Erste Impulse erhielt der heute 73-Jährige als Austauschvikar in Wolfsburg 1961/62 bei den VW-Arbeitern in der dortigen Industrie-Diakonie. Unter dem Titel „Offene Gemeinde“ verarbeitete er fürs zweite Examen die Informationen aus Begegnungen mit Betriebsräten, Gewerkschaftern, Industrie-Jugendlichen, vielen Vertriebenen-Gemeindegliedern sowie dem ökumenischen Projekt Urban Industrial Mission, das ihn unter anderem auf eine Studienreise nach Birmingham führte. In seiner Gemeinde wurden ökumenische Kontakte zu Polen, der Tschechoslowakei, der Sowjetunion und der DDR gepflegt, was einem zu dieser Zeit schnell den Ruf der Kommunistennähe eintrug. Söhner lernte auch die Gossner Mission kennen, die sich noch heute als Gossner-Kirche um Ausgegrenzte und Arme in Indien, Nepal und Sambia kümmert.

Zurück in Württemberg erlebte er den Beginn der kirchlichen Siedlungsarbeit in der Gemeinde Marbach/Neckar-Hörnle. Die Situationen in den Neubaugebieten, die nach dem Krieg aus dem Boden schossen, erforderten ein völliges Umdenken und neue Wege, um die Menschen seelsorgerlich begleiten zu können. Werner Simpfendörfer, der dies von der Akademie in Bad Boll aus nach den Vorbildern in Frankreich und den Niederlanden initiiert hatte, schreibt in seinem Buch Offene Kirche - Kritische Kirche: „In Hamburg, und München, Berlin und Stuttgart, in Köln und Hannover arbeiteten, diskutierten, experimentierten die Siedlungspfarrer mit ihren Arbeitskreisen, in ihren Aktionsgruppen, traten sie in die Auseinandersetzung mit den Behörden, holten sie sich Rat bei Planern, befragten sie die Soziologen und stießen sie auf die großen Chancen der eben aus Amerika eingewanderten Erkenntnisse der Gemeinwesenarbeit. Es dauerte nicht lange und bedurfte nicht vieler Anstöße, da verbanden sich die Strömungen der kirchlichen Industrie- und Sozialarbeit mit dem urbanen Engagement der Siedlungsarbeit. Sie drängten gemeinsam auf das gesellschaftsdiakonische Engagement, ohne das nach ihren Erfahrungen Gemeindearbeit nicht mehr möglich war.“ Also machte sich auch Hermann Söhner auf, um mit Unterstützung von Pfarrer Hermann Schäfer, in der Akademie Bad Boll zuständig für die Siedlungspfarrer-Praxis, und Sozialsekretär Willy Wurster, ebenfalls Bad Boll, Familienwochenenden zu organisieren und neue Formen der offenen Jugendarbeit zu entwickeln, was im Kirchengemeinerat Marbach auf erhebliche Bedenken stieß („Mir brauchet de Heiland und koin Bästele“). Ein Boller Hauskreis in dieser Siedlung kümmerte sich um die Planungen fürs Gemeindezentrum „Christophorus-Haus“, das auf die neuen Bedürfnisse ausgerichtet sein sollte.

1965 wurde Hermann Söhner Gemeindepfarrer in der Industriestadt Schwenningen mit dem Schwerpunkt für Jugendarbeit. Er fand sehr engagierte Gemeindeglieder vor, die etwas verändern wollten. So wurden Gottesdienste und Jugendgottesdienste von einem Arbeitskreis vorbereitet, der u.a. die Gebete formulierte, um die Sprache Kanaans zu überwinden. Bei seinem älteren Kollegen, der den Deutschen Christen angehört hatte, löste dies den Verdacht aus, dass sich die Jungen wieder von neuen Ideologien verführen ließen. Er sagte im Gottesdienst der Gemeinde: „Sie haben letzten Sonntag eine Rede gehört. Heute aber wird das Evangelium gepredigt.“ Hermann Söhner brachte das nicht aus dem Takt. Er lud Industrieausbilder zu offenen Abenden und Wochenendtagungen ein und den für die Prälatur zuständigen Jugendreferenten aus Bad Boll, um den jungen Leuten auf den Weg zu helfen. Er selbst nahm an einem Industriepfarrerkurs teil.

Erster Funke in Richtung Offene Kirche
Dieser Industriepfarrerkurs im Frühjahr 1966 ist für Söhner die eigentliche Keimzelle der Kritischen bzw. Offenen Kirche. Den Anstoß dazu gab das damalige Programm der Ludwig-Hofacker-Konferenz zum Thema: „Viele sind auf dem falschen Weg“. „An einem Abend saßen wir mit Werner Simpfendörfer zusammen und entwarfen den ersten Aktionsplan. Wir erstellten eine Liste von Kollegen und Gemeindegliedern, die wir als Gesinnungsgenossen einschätzten. So entstand ein erstes Netzwerk innerhalb der Landeskirche. Helmut Mayer, damals noch Oberndorf, gewann den Richter Dr. Klaus Roth-Stielow, der als Sprecher gewählt wurde. Heinz Hauger, damals Gemeindepfarrer in Deißlingen, brachte sich ebenfalls von Anfang an sehr aktiv ein.

Reformideen und Auseinandersetzungen
Als Kurt Rommel, der zuvor Jugendpfarrer in Bad Cannstatt gewesen war, 1966 nach Schwenningen wechselte, kam dort richtig Stimmung auf. Er schrieb viele neue Lieder und machte Jazz-Gottesdienste, die nicht in der Kirche, da sie ihm verweigert wurde, sondern im Filmpalast gefeiert wurden. Die EC-Christen standen entsetzt davor und warnten die Besucher. Als die Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ gegen die von Rudolf Bultmann ausgehende Theologie kämpfte und das wörtliche Verständnis der Bekenntnisaussagen verlangte, fingen die Reformer an zu überlegen, wie viele SympathisantInnen sie denn hätten und was sie in der Auseinandersetzung mit der Hofacker-Vereinigung tun könnten. Sie fanden Gleichgesinnte für eine Gemeindereform, bei der Nicht-TheologInnen mitreden konnten, bei den Siedlungspfarrern, der Kirchlichen Bruderschaft und vielen engagierten KollegInnen. „Eine große Rolle spielten Hans Rücker und Walter Schlenker, zwei kämpferische Typen“, erinnert sich Hermann Söhner. Eugen Fuchslocher und Helmut Mayer, die aus der Kriegsgefangenschaft kamen, brachten starke Impulse in Richtung politischer Mündigkeit der Gemeinden ein. Und der Kirchentag 1967 in Hannover, wo sich Reformgemeinden vorstellten (siehe „Anstöße 1/2009), prägte sie sehr. Die Bücher „Die Zukunft der Kirche und die Kirche der Zukunft“ von Johannes Christiaan Hoekendijk (Kreuz Verlag, 1964) und „Stadt ohne Gott“ von Harvey Cox (Kreuz Verlag 1966) wurden diskutiert. Den Titel des Buchs von Bischofs John A.T. Robinson „Gott ist anders“ zitierte Kurt Rommel in dem Lied „Gott ist anders als wir denken“.
 
Vom Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf kamen viele Denkanstöße, die im pietistischen Württemberg allerdings nicht alle begeisterten. „Das Anti-Apartheitsprogramm war für die Konservativen das Schlimmste, weil mit dem Geld Kommunisten unterstützt würden“, erinnert sich Hermann Söhner. Doch den angehenden OKlern lag das Programm ziemlich nahe. Dorle Dilschneider, die Frau des Boller Jugendreferenten Gerhard Dilschneider, machte mit beim Früchteboykott gegen Südafrika (siehe OK-Buch „Und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist“). Es war die Zeit, in der sich Sölle auf Hölle reimte. Im Schwenninger Kirchengemeinderat wurden die Erfahrungen aus Leonberg-Ramtel diskutiert und trotz unterschiedlicher Interessen vieles an Neuerungen übernommen, wie die Gemeindeausschüsse, die unter dem Motto „Salz der Erde“ verantwortlich arbeiteten. 1968 fand eine große Gemeindereformtagung in der Herrnhuter Brüdergemeinde in Königsfeld statt, begleitet von Sozialsekretärin Ilse Potschka und Hermann Schäfer aus Bad Boll. Danach wurde die Gesamtgemeinde neu strukturiert, damit die so genannten Laien effektiv mitarbeiten konnten. So ist es bis heute.

Kampf ums richtige Glaubensbekenntnis
Und dann kam die berühmt-berüchtigte Synodaltagung im November 1968, der der Rücktritt von Synodalpräsident Oscar Klumpp vorausgegangen war. Entzündet hatte sich der Streit bei den Vorverhandlungen zum Stuttgarter Kirchentag. Der Riss in der Landessynode ging zwischen der Ludwig-Hofacker-Vereinigung, deren Mitglieder sich für die „schon Erweckten“ hielten, und den „noch nicht Erweckten“, wie Synodalpräsident Klumpp und viele, „die solche unverschämten Unterstellungen beinahe schweigend hinnehmen und sich darauf beschränken, traurig zu sein anstatt ... deutliche Zeichen zu setzen, dass es mit uns so nicht weitergehen kann“, so Oscar Klumpp. Am 7. November gründeten deshalb junge Theologen und NichttheologInnen spontan die Kritische Kirche und begleiteten den Verlauf der Landessynode täglich mit Kommentaren. Sie versuchten zu retten, was zu retten ist, und forderten eine radikale Änderung der Informationspraxis sowie die Fortsetzung des von Klumpp eingeleiteten Demokratisierungsprozesses in der Landeskirche. An manchen Dingen knabbern wir noch heute. Der von Bischof Dr. Erich Eichele eingeladene Kirchentag 1969 war mit seinem Verlauf für die Pietisten offensichtlich solch ein Schock, dass noch Hans von Keler (Bischof von 1979 bis ’88) nichts von Kirchentag hören wollte. Erst sein Nachfolger Theo Sorg lud ihn 1989 zum Entsetzen der Lebendigen Gemeinde wieder nach Württemberg ein.

Aktion Synode 71
Als sich Hermann Söhner 1970 für die Stelle des Industriepfarrers in Heilbronn bewarb, lehnte Prälat Hege das Gesuch ab mit der Begründung, er sei zu jung. „Dabei war ich ihm vermutlich zu arbeitnehmerfreundlich“, sagt Hermann Söhner. Da er nun nicht Industriepfarrer werden durfte, arbeitete er von 1970 bis 1980 in der Gemeinde in Untergruppenbach. Zur Kirchenwahl 1971 nannte sich die Kritische Kirche, die inzwischen Bezirksgruppen und Arbeitsausschüsse gebildet hatte, in Aktion Synode 71 um und suchte Kandidierende. Sie wollte nicht als Partei auftreten, sondern nur für Sachlichkeit und Transparenz im Wahlkampf sorgen. Hermann Söhner kandidierte für den Bezirk Heilbronn, doch die Lebendige Gemeinde siegte haushoch. Ein Jahr später wurde auf einer Vollversammlung beschlossen, die Offene Kirche - Evangelische Vereinigung in Württemberg zu gründen, die sich eine demokratische Satzung gab. Die spätere Vorsitzende Eva-Maria Agster lernte bei Pfarrer Söhner von 1977 bis ’79 die Aufgaben einer Vikarin, woran sich bis heute beide gern erinnern. Von 1980 bis ’88 war er dann Landesmännerpfarrer und gehörte als Geschäftsführer des Landesausschusses Württemberg des Kirchentags dem Vorstand der Konferenz der Landesausschüsse in Fulda an. Bei Mesnertagungen setzte er gern die biblischen Texte der jeweiligen Kirchentage ein und diskutierte mit den Teilnehmenden darüber. So versuchte er, sie zu überzeugen, dass der Kirchentag sehr wohl auf dem Boden der Heiligen Schrift steht.