Bildungsgerechtigkeit durch Teilhabegerechtigkeit

Manchmal kann man auch richtig stolz sein auf seine Evangelische Kirche! Das kommt relativ selten vor, aber wenn, dann aus voller Überzeugung. So geschehen in der Frühjahrstagung der Württembergischen Landessynode. Grund für dieses kirchliche Hochgefühl war das Perspektivpapier „Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung“, mit dem die Evangelischen Landeskirchen von Baden und Württemberg zur aktuellen Bildungs- und Schulpolitik Stellung bezogen haben und diese von der württembergischen Synode ohne Gegenstimme angenommen wurde. „Mehr Bildungsgerechtigkeit durch mehr Teilhabegerechtigkeit am Bildungssystem“ lautet die Botschaft.

Das Perspektivpapier ist nach meiner Einschätzung ein mutiges Papier. Es ist deshalb mutig, weil es den Menschen Mut macht, auf die Kraft von Bildung zu vertrauen und darauf, dass es möglich ist, ein Bildungssystem zu gestalten, in dem junge Menschen trotz großer gesellschaftlicher Verwerfungen nicht zu Verlierern erklärt werden, sondern eine individuelle Wertschätzung und Förderung erfahren.

Und mutig ist das Papier auch, weil sich die Evangelische Kirche deutlich und offen zu einem gesellschaftlich hoch relevanten Thema äußert. Das verdient Lob und Anerkennung!

Längeres gemeinsames Lernen
Die Kernaussage des Papiers ist mit dem Begriff der Teilhabegerechtigkeit jedes Einzelnen am Bildungssystem umschrieben. Der Begriff ist ein „Ankerbegriff' und postuliert die Grundthese, dass alle Menschen am Bildungsangebot nach ihren Bedürfnissen teilhaben dürfen. Eine zentrale Maßnahme zum Erreichen dieser Teilhabergerechtigkeit ist die Möglichkeit des längeren gemeinsamen Lernens. Junge Menschen brauchen diese Zeit des längeren gemeinsamen Lernens, um im Miteinander und in der gegenseitigen befruchtenden Auseinandersetzung entwicklungsspezifisch zu reifen.

Gerade im Hinblick auf heterogene Strukturen in einzelnen Klassen oder Gruppen plädiert das Positionspapier für mehr Offenheit und Professionalität. Es macht Mut zum Abbau von Ängsten im Umgang und Zusammensein mit Menschen, die anders sind. Natürlich verlangt Teilhabe- und Bildungsgerechtigkeit auch eine Differenzierung im Bildungssystem. Es geht eben nicht um eine schwärmerische Gleichmacherei von Bildungszielen und Bildungsabschlüssen, sondern um die Chance einer differenzierten individuellen Förderung. Wer deshalb das Angstbild einer „Einheitsschule" beschwört, hat das Positionspapier einfach nicht verstanden.

Bildungslandschaft
Mir gefällt auch das Bild von einer Bildungslandschaft, in der sich die Menschen nach ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegen können. Deshalb ist es richtig, eine Vernetzung von formalen und nicht formalen Bildungseinrichtungen zu knüpfen.

Der Gesprächskreis „Offene Kirche" hat sich deshalb für eine starke Vernetzung der unterschiedlichen Bildungseinrichtungen eingesetzt, so dass z. B. Kindertagesstätten und Grundschule, private und öffentliche Schulen, schulische und außerschulische Bildungseinrichtungen als Bildungspartnerschaften zusammenwirken. Vor allem der wohl wichtigsten Bildungseinrichtung muss Raum und Zeit in einem Netzwerk eingeräumt werden - der Familie.

Rhythmisierte Ganztagesschule
Genau an dieser Stelle muss die Forderung nach einer rhythmisierten Ganztagesschule genannt werden. Sie will sicherstellen, dass junge Menschen in einem temporär begrenzten Raum in Schule oder anderen Bildungseinrichtungen leben und lernen und danach Zeit und Raum für Familie, Verein, Freunde - und eben auch die Kirche haben. Mit dieser Form einer rhythmischen Ganztagesschule können wir auf geänderte soziologische Gesellschaftsstrukturen reagieren. Gerade diese Form der Ganztagesschule ist in besonderem Maße familienfreundlich, weil es auf individuelle Bedürfnisse spezieller Familienstrukturen flexibel reagieren kann. Die rhythmisierte Ganztagesschule schafft Orientierung, Halt und schließlich auch einen schulfreien Raum.

Vor allem sozial benachteiligten Kindern kommt die im Papier formulierte Strukturreform des Bildungssystems zugute, weil Perspektivlosigkeit und Stigmatisierung in einzelnen Bildungsgängen vermieden werden.

Das Perspektivpapier sieht in der Bildung einen Prozess der Wertschätzung jedes Menschen, die ihm die Möglichkeit der Entfaltung der ihm von Gott gegebenen Fähigkeiten und Fertigkeiten ermöglicht. Es setzt somit auf Wertschätzung und nicht auf Ausgleich von Defiziten.
Das ist ein großer Unterschied – und darauf darf man auch stolz sein!